Sonntag, 20. Oktober 2013

Die Drachenbrüder


Baldor und Albrich, die Drachenbrüder, saßen in der Drachenschule und versuchten sich auf die Aufgaben zu konzentrieren. Doch immer wieder wanderten ihre Blicke zu dem Drachenmädchen Flaja. Diese war eine schlanke Schönheit, ganz im Gegensatz zu Baldor. Der große Bruder von Albrich war ein dicker Drache. So war es schon immer und es hätte auch so bleiben können, wenn Albrich nicht am nächsten Tag zu Flaja gegangen wäre und ihr einen Strauß Feuerblumen geschenkt hätte. Flaja war nämlich so gerührt, dass sie Albrich die Wange leckte. Als Baldor dies sah, flammte Eifersucht in ihm auf. Zornig ging er auf ihn zu. Seine Flügel bebten vor Erregung. „Was hast du dir dabei gedacht?!“, fauchte er Albrich an, der verträumt Flaja nachsah. Zuerst wusste Albrich nicht, warum Baldor sich so über seine Tat aufregte. Dann verstand er. Baldor ist auch in Flaja verliebt und er, Albrich, hatte die alte Tradition verletzt. Diese war, dass die Älteren immer Vortritt haben, egal um was es sich handelt. Bei dieser Kenntnis ließ er den Kopf hängen. „Ich wusste es nicht. Es tut mir leid”, entschuldigte er sich schuldbewusst. Als er wieder aufblickte, sah er, dass Baldor immer noch mit verschenkten Vorderbeinen dastand. „Was ist denn noch? Ich habe mich schon entschuldigt”, rechtfertigte Albrich sich. „Und du denkst das reicht?!“, fragte Baldor und funkelte seinen jüngeren Bruder an. „Was soll ich denn noch tun! Es ist schon passiert und ungeschehen kann man es auch nicht machen!“ Albrich ärgerte sich. Warum muss Baldor sich so darüber aufregen?, dachte er. „Ungeschehen machen kann man es nicht, aber überdecken!“, sagte Baldor nachdenklich. „Was meinst du damit?“, wollte Albrich aufgebracht wissen. Baldors wütender Blick wanderte wieder zu ihm. „Ganz einfach du Küken!“ Baldor verzog das Gesicht zu einem Grinsen. „Wenn ich ihr etwas schöneres schenke, wird sie dich vergessen!“ „Das wird dir nicht gelingen!“, entgegnete Albrich mit einen Lächeln. „Warum?!“, knurrte Baldor ihn an. Doch Albrich drehte sich- immer noch lächelnd- um und ging zu seinen Freunden, um mit ihnen Feuerball zu spielen.

Am Ende des Unterrichts war Baldor noch immer mit seinen Fragen beschäftigt. Wie kann ich Albrich übertreffen? Und was soll ich Flaja schenken? Dann erinnerte er sich an die Landkarte, die Frau Eoa, ihre Fluglehrerin, ihnen gezeigt hatte. Dort war eine Ritterburg eingezeichnet gewesen, ganz in der nähe von seiner Heimat. Und wie er von dem Geschichtsunterricht wusste, befinden sich in solchen Burgen Schatzkammern mit Gold! „Das ist es!“, rief er aus und ignorierte den fragenden Blick von seiner Mutter, als er in die Höhle eintrat. Baldor schlang sein Mittagsessen hinunter und erstickte fast. Nur der aufmerksamen Mutter verdankte er, dass er noch lebte. „Was ist los, Baldor?“, fragte sie nach dem Essen. Mit einem Grinsen verzog sich Albrich in seinen Höhlenteil. „Ich wollte heute zu Mars rüber fliegen und mit ihm zusammen zu dem Wald fliegen”, sagte Baldor betont harmlos. „Und deshalb schlingst du dein Fleisch herunter und erstickst fast!“ Seine Mutter blickte ihn tadelnd an. „Ist ja schon gut”, versuchte Baldor sie zu besänftigen, „In Zukunft werde ich meine Tischmanieren nicht vernachlässigen!“ Zufrieden nickte sie. „Dann darfst du jetzt zu Mars.“ Sie ging hinaus um die Feuer- und Makrelblumen zu gießen. Als Baldor abflog, hörte er noch das Kichern von Albrich. Mit wenigen Flügelschlägen war er in der Luft und flog in Richtung Ritterburg. Nach einer halben Stunde sah man die Silhouette der Burg am Horizont. Freudig schickte Baldor einen Feuerstrahl in den Himmel. Er ließ sich von der Luft tragen und war nach wenigen Minuten über der Burg. Langsam ließ er sich hinunter gleiten. Kaum brach er aus der Wolkendecke wurde in der Burg Alarm geblasen. Und schon schossen die ersten Bogenschutzen nach ihm, doch die Schuppen schützten Baldor und die Pfeile fielen in die Tiefe. Alles war geschützt. Nur die Flügel nicht. Die Membranhaut wurde von Pfeilen bespickt und beschwerten das Fliegen und Baldor segelte langsam in den Burghof. Er schickte einen Feuerstrahl voraus. Baldor erwartete, dass die Menschen in Flamen aufgehen, doch ihre Schilder, die auch die Burgmauern zierten, werten das Feuer ab. Nur ein Kettenhemd fing Feuer, doch dieses wurde sofort gelöscht. Baldor war verwirrt. Mit einem dumpfen Laut landete er. Dann schaute er sich um. Nirgendwo war Feuer.  In seiner Verwirrung näherten sich hinter ihm fünf Ritter, die zwei Hammer, zwei spitze Pfosten und ein dickes Seil hielten. Baldor bemerkte sie erst, als sie mit ihren beiden Hämmern die Pfeiler in die  Membranhaut der Flügel durchbohrten. Er konnte die Flügel nicht bewegen. Fauchend wandte er seinen Kopf den fünf Rittern zu. Nun reagierte der Ritter mit dem Seil in den Händen und schlang es um sein Maul. In der Hoffnung ihn loszuwerden, reckte er seinen Kopf in die Höhe. Hilflos baumelte der Ritter in der Luft, doch irgendwann gelang es dem Ritter doch, Baldors Maul zu schließen. Baldor schüttelte den Kopf und machte die ganze Zeit ruchartige Bewegungen, doch der Ritter und das Seil blieben an seinem Maul. Ergeben legte er den Kopf auf den Boden und wünschte die Ritter würden einen kurzen Prozess mit ihm machen. Doch die Ritter dachten nicht daran ihn zu töten. Sie legten ihm drei Metallreifen um den Hals und nahmen die Pfeiler aus Baldors Flügeln. Eisenketten wurden an den Metallreifen befestigt und die Ritter nahmen sich jeweils eine. Baldor ließ sich von ihnen in einen Saal bringen und schaute niedergeschlagen zu, wie die Ritter die Eisenketten mit ein paar Handgriffen an drei Eisenringe in der Mauer befestigten. Dann verließen sie ihn und schlossen das gepanzerte Portal. Sobald sich der Schlüssel im Schloss drehte, brüllte Baldor seine ganze Verzweiflung heraus. Er versuchte durch zerren die Eisenketten zu zerteilen. Doch schon bald gab er auf. Die Metallreifen um seinen Hals kratzten über seine Schuppen und sechs legen schon auf dem Boden. Traurig dachte er an seine Mutter und an Albrich. Dann dachte er an Flaja. Dann dachte er an seinen Vater, der zu den Menschen geflogen war und seitdem sehr zurückgezogen lebte. Hatte sein Vater das gleich ertragen müssen wie ich, fragte sich Baldor.

Eine huschende Bewegung weckte seine Aufmerksamkeit. Blinzelnd schaute er in die Dunkelheit. Ohne Feuer war die Nacht unheimlich und dunkel. Das wird eine lange Nacht, dachte er traurig und schloss die Augen wieder. Etwas berührte seine durchlöcherten Flügel. Zuerst versuchte Baldor es zu ignorieren, doch dann bemerkte er, dass es Finger waren und schreckte hoch. In seinem Blickfeld war ein Mädchen mit einer Fackel, daneben standen zwei Jungen. Baldor schwenkte seinen großen Kopf auf sie zu. Er knurrte, als einer der Jungen nach dem Strick griff, der um sein Maul gebunden war. Verwirrt spürte er, wie der Junge den Strick abstreifte. Prüfend klappte er den Mund einmal auf und zu. „Glaubt ihr er kann verstehen was wir sagen?“, fragte das Mädchen. Doch die Jungen kamen nicht zu Wort. „Natürlich verstehe ich, was ihr sagt! Wie sollen wir Drachen uns denn sonst unterhalten?“, knurrte Baldor. Die Kinder wurden bleich vor Schreck. „Äh… Gut das du uns verstehen kannst”, begann einer der Jungen unsicher. „Wir wollten dir sagen… äh, wir wollten dich bitten…, dass du kein Feuer spuckst. Man… man würde es bemerken.“ Abschätzend betrachtete Baldor die beiden Jungen und danach das zierliche Mädchen. Der blonde Junge war kräftig gebaut und hatte einfache Kleidung an. An seinem Gürtel hingen ein Dolch und ein Beutel. Der andere Junge, der eben gesprochen hatte, war dünn und trug die gleiche Kleidung wie der Andere. Doch an seinem Gürtel hing nur ein Beutel. Dafür hatte er einen Bogen und einen Köcher auf dem Rücken. Das Mädchen dagegen war mit prächtigen Kleidern bekleidet und trug eine silberne Kette um ihren Hals. Bewaffnet war sie nicht. „Und was wollt ihr von mir?“, fragte Baldor und lächelte, als er sah, dass der blonde Junge nervös hin und her schaute. Da meldete sich das Mädchen zu Wort. „Wir wollen dich befreien. Wie heißt du eigentlich?“ Baldor knurrte. Dann antwortete er widerwillig: „Baldor.“ Erwartungsvoll schaute er auf die Kinder herab. „Ich bin Violetta, das“ – Das Mädchen zeigte auf den blonden Jungen - „ist Mark und das“ – Sie zeigte auf den anderen Jungen – „ist Luc“ Violetta brachte ein kleines Lächeln zustande. „Darf ich dir die Metallringe um deinen Hals lösen?“, fragte Luc leise. Zur Antwort senkte Baldor den Hals auf die für Luc erreichbare Höhe. Mark holte einen Schlüsselbund heraus, reichte ihn Luc und dieser begann nach dem ersten passenden Schlüssel zu suchen. Baldor war verwirrt. Erst fingen die Ritter ihn und dann ließen Kinder ihn frei! Die Menschen sind schon ein komisches Volk, dachte er. Dann war er frei. Mit neuem Mut reckte und streckte er sich. Seine Flügel schmerzten noch, aber weil die Membranhaut die Eigenschaft hatte schnell wieder nachzuwachsen, waren die meisten Löcher nicht mehr zu sehen. Mark, Violetta und Luc retteten sich außer Weichweite der Flügel, als Baldor sie prüfend auf und ab schlug. „Danke!“, sagte er freudig. Mark und Luc verbeugten sich leicht. „Haben wir gern gemacht”, flüsterte Violetta mit einem Lächeln, „Nun müssen wir aber gehen.“ Mit diesen Worten ging sie zum Portal und öffnete es. Die Jungen folgten ihr hinaus und nachdem sie noch einmal gewinkt hatten, verschwanden sie im Schatten. Langsam ging auch Baldor in den Flur hinaus. Plötzlich tauchte Luc wieder vor ihm auf. „Könnte ich mit dir mitkommen?“, fragte er leise. „Warum?“, fragte Baldor zurück. Luc zuckte mit den Schultern. „Wenn wir bei mir Zuhause sind, gibt es nur Drachen! Als was willst du bei uns auftauchen? Und außerdem würde der erste Drache, der dich sieht, einfach braten“, meinte Baldor. „Du könntest mich doch beschützen!“, schlug Luc vor, „Und was die Frage angeht; ich könnte als dein Reiter kommen.“ Skeptisch schaute Baldor ihn an. „Es ist dein Leben”, sagte er, „Ich garantiere nicht, dass du ein hohes Alter erreichst und ohne Verletzungen bleibst.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Du solltest Verpflegung mitnehmen. Und weitere Kleider wären auch nicht schlecht.“ „Das habe ich schon gemacht”, sagte Luc und holte einen Holzgerahmten Rucksack hervor. Leise schlichen sie auf den Burghof und Luc kletterte auf Baldors Rücken. „Du bist auch wirklich sicher, dass du mitkommen willst?“, fragte Baldor noch einmal. „Ja”, kam es wie erwartet von seinem Rücken. Dann flog er los. Im Morgengraun kamen Baldor und Luc an ihrem Ziel an.
Zur gleichen Zeit wurde bemerkt, dass die Beiden aus der Burg geflogen waren. Mark war sich sicher, dass Luc mit dem Drachen weggeflogen war, doch Violetta glaubte er sei von dem Drachen gefressen worden.

Wie Baldor vorausgesagte hatte, versuchte der erste Drache, den er und Luc begegnetem, Luc zu fressen. Nur durch Baldors zureden ließ der Drache von Luc ab. Luc war schockiert, fing sich aber wieder. Als sich alle an ihn gewöhnt hatten, waren Jahre vergangen und Luc hatte sich zu einem Fleischfresser entwickelt. Er kam mit in die Drachenschule. Wenn die Drachen Feuer spuckten, durfte er mit einem feuerfesten Schild die Flammen abwehren.
Als er älter wurde, führte er ein Unterrichtsfach namens Menschenkunde ein. Baldor half ihm dabei. Und Flaja? Flaja paarte sich mit Albrich.